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Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft
Literarische Texte – im engeren Sinn epische, dramatische und lyrische Texte – sind fiktional, sie sind intertextuell und sie sind mehrdeutig. „Was Leser/innen wahrnehmen, ist nicht die Bedeutung, sondern es sind Zeichen. Bedeutung erhalten diese Zeichen, indem ihnen die Leser/innen Bedeutung zuschreiben, und zwar eine oder mehrere mögliche Bedeutungen.“1 Die Interpretation literarischer Texte ist nicht beliebig, sondern hängt vom Text selbst, seinen Entstehungsbedingungen, und vom Wissen, von den Haltungen, von der Lesesozialisation der Leser/innen ab. Beliebig wird die Deutung, wenn sie nicht mehr am Text belegbar ist. Eine plausible und gültige Deutung wird nachvollziehbar argumentiert und am Text belegt. Um die Bedeutungen eines Textes zu erschließen, bieten sich unterschiedliche methodische Zugänge an. Entscheidend für die Wahl der jeweiligen Methode sind Erkenntnisinteresse und -ziel. Was will der/die Interpret/in vom Text wissen? Eine Methode bezeichnet den eingeschlagenen Weg oder die Untersuchungsweise, die der Beantwortung einer wissenschaftlichen Frage dient. 2
Eine Auswahl literaturwissenschaftlicher Methoden im Überblick:3
Gruppe 1: Methoden, welche die thematischen und ästhetischen Dimensionen eines Textes freilegen. Hier steht der Text im Zentrum.
- Hermeneutik
- Strukturalismus
- Werkimmanenz
- Intertextualität
- komparatistische/vergleichende Methode
- literarische Übersetzung
Gruppe 2: Methoden, welche die gesellschaftliche Relevanz eines Textes ergründen. Hier steht der historische, soziale, kulturelle Kontext im Zentrum.
- sozial- und kulturgeschichtliche Ansätze
- feministische Literaturtheorie
- Gender Studies
Gruppe 3: Methoden, welche die humanwissenschaftliche Bedeutung eines Textes feststellen. Hier stehen Autor/in und Leser/innen im Zentrum.
- Rezeptionsästhetik
Meist wird eine bewusste, zielgerichtete Verschränkung verschiedener methodischer Herangehensweisen praktiziert.
Verankerung im Lehrplan Deutsch der AHS Oberstufe:
Die literarische Bildung stellt neben der mündlichen, der schriftlichen und der Textkompetenz, sowie der medialen Bildung und der Sprachreflexion einen wesentlichen Bereich im Deutschlehrplan der AHS-Oberstufe dar. Sie „hat den Schülerinnen und Schülern möglichst vielfältige rezeptive, analytische, produktive und kreative Zugänge zu ästhetischen Texten aller Medienformate und unterschiedlicher Kulturen zu bieten. Die Schülerinnen und Schüler sollen […] lernen, […] eine eigenständige Interpretation sowie ästhetisches und kritisches Urteilsvermögen zu entwickeln und unterschiedliche Rezeptionshaltungen zu reflektieren. Die Analyse von Besonderheiten ästhetischer Texte und ihrer Entstehungsbedingungen sowie die Einordnung von Texten in den kulturellen und historischen Kontext sind anzustreben.“4 Unter den konkreten Bildungs- und Lehraufgaben werden hier genannt: unterschiedliche Ansätze der Textanalyse erproben und anwenden; Interpretationen auf Basis von Textbeschreibung, Kontexten und Sekundärliteratur vornehmen; verstehen, auf welche Weise Texten Bedeutung zugeschrieben wird: über unterschiedliche Ansätze der Textinterpretation verfügen.5
1 Der Text im Fokus
1.1. Hermeneutik
Welchen Sinn hat ein Text?
Auf welche Arten/Auf wie viele Arten kann ich einen Text verstehen?
Welche Vorverständnisse, welche Verstehensklischees, welches Weltwissen prägen den/die Leser/in?
Die Hermeneutik als Lehre des Verstehens stellt die theoretische Basis jeglicher Interpretation dar. Ursprünglich war das Ziel der Hermeneutik, den vom Autor gemeinten Sinn eines Textes zu erschließen. Diese Herangehensweise wurde jedoch erweitert angesichts der Erkenntnis, dass „der Sinn eines Textes seinen Autor“6 immer übertreffe. Die literarische Hermeneutik geht heute vom Vorverständnis des Lesers/der Leserin aus. Das Lesen eines Textes wirft aufgrund seiner Mehrdeutigkeit Fragen auf. Man sammelt Informationen, beispielsweise über die Entstehung des Textes, die historische Epoche, die sozioökonomischen Rahmenbedingungen des Autors/der Autorin. Meist ändert sich dadurch der Blick auf den Text. Nach abermaligem Lesen entstehen neue Fragen und man sucht abermals Informationen, um den Text besser zu verstehen. So entsteht ein Kreislauf, also ein Verstehens- und Auslegungsprozess, in dem der/die Leser/in den Text immer besser und differenzierter versteht und in der Folge interpretiert. Dieser Prozess wird hermeneutischer Zirkel, zutreffender eigentlich hermeneutische Spirale, genannt, „das Wechselspiel zwischen den beiden Horizonten des Textes und des Lesers, die sich gegenseitig verändern“.7
1.2. Strukturalismus
- Wie ist der Text aufgebaut?
- Wann, wo, wie oft werden bestimmte Zeichen/Wörter eingesetzt?
- Wie ist die Sprache eines Textes?
- In welchen Beziehungen stehen die Wörter eines Textes zueinander?
Im Gegensatz zur Hermeneutik geht es nicht um die Frage nach dem Sinn eines Textes, sondern um dessen formale Grundstruktur, wobei ein Text als ein von seinem (Entstehungs-)Kontext unabhängiges, geschlossenes System von Zeichen gesehen wird. Untersucht werden Sprache – Wörter, aus denen der Text besteht, und ihre Häufung, Satzbau, Rhetorik – sowie Struktur und Aufbau des Textes, um daraus Schlüsse für die Interpretation ziehen zu können. Dies kann beispielsweise der Bestimmung der Gattungszugehörigkeit eines Textes dienen. Bei hybriden Texten kann anhand der strukturalistischen Methode festgestellt werden, aus welchen Gattungen bestimmte sprachliche oder Erzählmuster stammen.
Beispiel:
Inwieweit folgt der Jugendroman „Tschick“ (Wolfgang Herrndorf, 2010) dem erzählerischen Muster der Heldenreise, wie sie von Joseph Campbell und in weiterer Folge Christopher Vogler auf der Grundlage von antiken Mythen herausgearbeitet und beschrieben wurde? Wo weicht der Roman von dem Schema ab? Was bedeutet das für die Interpretation des Romans?
1.3. Werkimmanenz
- Welche Themen, Stoffe und Motive werden im Text verarbeitet?
- Wie werden Räume und Zeitstrukturen dargestellt?
- Wie werden Figuren charakterisiert?
- Welche sprachlichen bzw. rhetorischen Mittel kommen im Text vor?
Diese literaturwissenschaftliche Methode bezweckt die Texterschließung „aus sich selbst“, ausgehend von der Annahme, Form, Inhalt und Sprache bilden eine Einheit. Ihre zentrale Maxime lautet, „dass wir begreifen, was uns ergreift“8, was uns emotional berührt oder verstört. Für die Analyse und Interpretation werden keine weiteren Materialien oder Quellen herangezogen. Die Analyse von Sprache, Form, Komposition und Struktur steht im Vordergrund, beispielsweise können bei erzählenden Texten Erzählperspektive, Figurenkonstellation, Zeitstrukturen, Raumdarstellungen, Verhältnis von Titel und Text, Themen, Stoffe und Motive analysiert werden. Die werk- oder textimmanente Methode dient auch zur Klärung der Frage, welcher Gattung ein Text zuzuordnen ist.
Beispiel:
In der Kurzgeschichte „Im Spiegel“ (Margret Steenfatt, 1984) kommt in der ersten Hälfte des Textes zehnmal der Begriff „nichts“ vor. Wie kann man diesen Begriff zu den im Text verhandelten Themen bzw. zur Hauptfigur in Beziehung setzen? Wie verhält sich der Leitbegriff zum Titel der Kurzgeschichte?
1.4. Intertextualität
- Wie greifen unterschiedliche Texte ineinander?
- Wie bereichern unterschiedliche Texte einander?
- Welche Bücher liest der/die Protagonist/in eines Romans und welche Rückschlüsse lässt dies zu auf deren/dessen Charakterisierung?
Intertextualität meint ein Bezugssystem, in dem alle Texte miteinander verbunden sind. Intertextuelle Ansätze untersuchen das Verhältnis eines Textes zu anderen Texten. Dabei ist unerheblich, ob dies vom Autor/von der Autorin intendiert ist oder nicht. Intertextuelle Verfahren sind offene oder „kryptische“ Zitate und Verweise auf andere Texte (dazu zählen auch Bilder, Filme, Musikstücke, Kunstwerke…), Montage, Parodie, Travestie oder Anspielungen. Intertextuelle Bezüge entstehen auch über Themen, Stoffe und Motive. Intertextuelle Analyseverfahren können neue Textschichten und Dimensionen, neue Bedeutungen, also die Komplexität und Vielschichtigkeit eines Textes offenlegen.9
Beispiel:
In Isabel Abedis Jugendroman „Isola“ (2007) wird an einem Wendepunkt der Handlung der komplette Liedtext des Songs „God is a DJ“ zitiert. Welche Bedeutung hat der zitierte Text für die Figuren, für die Handlung, für die im Roman verhandelten Themen?
1.5. komparatistische/vergleichende Methode
- Wie werden Themen, Stoffe und Motive in unterschiedlichen Texten konkretisiert?
Texte können in unterschiedlicher Weise verglichen werden. Im eigentlichen Sinn versteht man unter Komparatistik die Wissenschaft von den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Literatur verschiedener Kulturen.
Beispiel:
Die Jugendromane „Superhero“ (Anthony McCarten, 2005), „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ (John Green, 2012) und „Bevor ich sterbe“ (Jenny Downham, 2007) zählen zur Subgattung Sick-Lit, in allen drei Romanen geht es um todkranke Jugendliche. Die Romane können dahingehend untersucht werden, welche Strategien die Erkrankten haben, um mit der Krankheit umgehen zu können.
1.6. literarische Übersetzung10
Übersetzung im engeren Sinn meint die Wiedergabe eines Textes in einer anderen Sprache, interlinguale Übersetzung. In einem weiteren Sinn kann Übersetzung auch die Übertragung eines Textes in ein anderes Medium – intermediale Übersetzung – bedeuten, beispielsweise die Verfilmung eines Romans, oder die Übersetzung von Texten innerhalb derselben Sprache – intralinguale Übersetzung –, beispielsweise die Übertragung eines mittelhochdeutschen Textes in die Standardsprache. Schließlich kann es auch zu interkulturellen Übersetzungen kommen, wenn es zur Begegnung zweier Kulturen kommt, und das beim Lesepublikum der Zielsprache zu Verständnisproblemen führen könnte. Aufgrund ihrer Vieldeutigkeit (Polyvalenz) stehen Übersetzer/innen in ihrer Tätigkeit vor folgenden Fragen:
Wenn nicht alle formalen Eigenschaften eines Textes und alle seine Bedeutungen übersetzt werden können, welche sind wichtiger? Was muss geopfert werden? Was muss gerettet werden? Man spricht in diesem Zusammenhang von Übersetzungsverlust bzw. Übersetzungsgewinn.
- Welche Lösungen können für ein bestimmtes Übersetzungsproblem gefunden werden?
Literarische Übersetzung ist somit eine kreative Tätigkeit, es entstehen zwei gleichberechtigte Versionen desselben Textes, in der Ausgangssprache und in der Zielsprache. Die Übersetzung ist daher auch eine Form der Interpretation, weil sie bestimmte Bedeutungen des Ausgangstextes erst sichtbar macht.
Beispiel für interkulturelle Übersetzung (Begriffsklärung):
In „Harry Potter and the Philosopher’s Stone“ (Joanne K. Rowling, 1997) vermutet einer der Protagonisten „Perhaps people have been celebrating Bonfire Night early“. Für das jugendliche deutschsprachige Publikum, das mit Bonfire Night vermutlich nichts anfangen kann, wurde dieser Satz in „Harry Potter und der Stein der Weisen“ mit „Vielleicht haben die Leute zu früh Silvester gefeiert“ übersetzt.
2 Der Kontext im Fokus
2.1. sozial- und kulturgeschichtliche Ansätze
- Wie beeinflussen soziale und kulturelle Entwicklungen literarische Texte und wie wirken literarische Texte auf die Gesellschaft?
- Welche Funktionen haben literarische Texte innerhalb ihres gesellschaftlichen und historischen Entstehungsumfeldes?
- Welche Informationen gibt es über den Autor/die Autorin?
- Welche ideologischen Hintergründe gibt es für die Entstehung des Textes?
- Welche geschichtlichen und gesellschaftlichen Faktoren spielen für die Entstehung eines Textes eine Rolle?
- Auf welche historischen Umstände spielt der Text an?
Diese Ansätze entstanden infolge der 1968er Unruhen und in Abgrenzung zur werkimmanenten Methode und fragen nach den gesellschaftspolitischen und soziokulturellen Bezügen von Literatur. Sie basieren auf der Annahme, dass literarische Texte zwar fiktional sind, aber immer auf die gesellschaftliche Realität bzw. die außertextliche Wirklichkeit verweisen, sowohl was die Thematik (Stoffe, Motive, Figuren…) als auch Form und Stil (Genre, Erzähltechnik, Schreibformen, ästhetische Verfahrensweisen…) betrifft. Sozialgeschichte der Literatur fragt nach dem Milieu, der Herkunft und Sozialisation der Autor/inn/en. Sie geht der Frage nach, inwieweit die Lebensgeschichte des Autors/der Autorin für die Deutung eines Textes relevant ist. In diesem Zusammenhang ist auch von der biografischen Methode die Rede. Sie untersucht aber auch die Instanzen der Vermittlung von Literatur und fragt nach der literarischen Kommunikation insgesamt (Literaturbetrieb und -vertrieb, Verlagswesen, Zeitschriften, Leihbüchereien, Bibliotheken…). Die Analyse, Beschreibung und Interpretation von Literatur erfolgt im Kontext ihrer gesellschaftlichen Entstehungszusammenhänge. Diese Vorgehensweise wird auch textgenetische Methode genannt.
Beispiel:
Die Romane „Ich knall euch ab!“ („Give a Boy a Gun“, Morton Rhue, 2000), „Der Tag X – Die Zeit läuft“ („The Brimstone Journals“, 2001) oder „19 Minuten“ („Nineteen Minutes, Jodi Picoult, 2007) thematisieren Schulamokläufe, nachdem 1999 in Littleton (Colorado, USA) zwei Schüler an der Columbine High School zwölf Mitschüler, einen Lehrer und sich selbst erschossen haben. 2002 veröffentlicht Michael Moore seine oscar-preisgekrönte Dokumentation „Bowling for Columbine“. Hier kann man fragen, wie die Romane das Thema Schulamokläufe darstellen bzw. welche Positionen die Romane in der öffentlichen Debatte um die Verantwortung einnehmen.
2.2. feministische Literaturtheorie
- Wann, wo, unter welchen Umständen konnten und können Frauen als Autorinnen tätig werden?
- Über welchen Themen schreiben Frauen?
- Wie schreiben Frauen? Schreiben Frauen anders?
- Welche Frauenbilder werden in von Männern verfasster Literatur entworfen?
Die feministische Literaturtheorie entsteht auch im Zusammenhang mit den Studentenunruhen der 1968er Jahre im Umkreis der Frauenbewegung. Drei Arbeitsbereiche seien hier genannt: Erstens sollte mit der systematischen und historischen Erforschung der von Frauen verfassten Literatur eine Frauenliteraturgeschichte entstehen, ein Gegenkanon, also eine Erweiterung des männlich dominierten literarischen Kanons. Schreibende Frauen sollten sichtbar gemacht werden. Zweitens ging es um die Analyse der von Frauen verfassten Literatur, ausgehend von der Fragestellung, ob es eine spezifisch weibliche Ästhetik, ein genuin weibliches Schreiben gebe. Die Analyse umfasste sowohl thematisch-inhaltliche Aspekte als auch formal-stilistische Komponenten. Drittens wurden die in der Literatur entworfenen Frauenbilder untersucht, Stichwort „imaginierte Weiblichkeit“. Die Überlegung, dass Frauen als Autorinnen im Lauf der Geschichte kaum in Erscheinung treten, aber in Literatur und Kunst als Bild, Motiv und Figur überrepräsentiert sind, führte zu dem Vorhaben, diese imaginierten Frauenbilder und (männlichen) Projektionen aus einer dezidiert weiblichen Perspektive zu untersuchen und zu beschreiben. Die Frauenbildforschung zeigte, „dass die Modellierung weiblicher Figuren vielfach nach patriarchalisch-männlichen Normen funktioniert und literarische Texte mithin auch die damit festgeschriebenen gesellschaftlichen Rollenbilder bekräftigen.“11
Beispiel:
Welche Frauenbilder werden in klassischen Dramen der Weltliteratur entworfen? Wie werden Ophelia („Hamlet“, William Shakespeare, 1609), Gretchen („Faust“, Johann Wolfgang von Goethe, 1832) und Marie („Woyzeck, 1837) dargestellt? Werden durch die Darstellung geschlechtertypische Rollenklischees stabilisiert, revidiert oder sogar dekonstruiert? Stimmen die Frauenbilder in den Dramen mit den historischen Frauenbildern überein?
2.3. Gender Studies
- Wie ist das Verhältnis/die Ordnung zwischen den Geschlechtern in der Gesellschaft/in einer Gruppe?
- Welche gesellschaftlichen, historischen und soziokulturellen Bedingungen gibt es für die vorherrschenden Geschlechterbeziehungen?
- Wie werden kulturelle Entwürfe von Weiblichkeit und Männlichkeit in der Literatur konstituiert, stabilisiert und revidiert?
Auf der Grundlage der feministischen Literaturtheorien entstehen die Gender Studies. „Gender (lat. generare: erzeugen, generieren) ist im Unterschied zum biologischen Geschlecht (sexus) die kulturell oder diskursiv erzeugte Auffassung oder Vorstellung davon, was die gesellschaftlichen Rollen der Geschlechter seien.“12 Gender-Forschung umfasst auch die Untersuchung von Männlichkeitsbildern, -phantasien und -vorstellungen. Sie fragt nach den Geschlechterbeziehungen bzw. der Geschlechterordnung in der Gesellschaft oder in gesellschaftlichen Gruppen. Dabei werden sozio-kulturelle Aspekte berücksichtigt, aber auch Alltags- und Populärkultur. Ausgehend von den Gender Studies entstehen die Postcolonial Studies und die Queer-Studies, die Kategorien wie Ethnie, Rasse, Klasse, sexuelle Identität und sexuelle Orientierung einschließen. Die Analyseverfahren der Gender-Studies sind interdisziplinär und vielfältig, die fächerübergreifenden Fragestellungen integrieren Diskurse aus den Bereichen Religion, Recht, Politik, Medizin, Pädagogik und Philosophie. Dementsprechend kommen in den Gender Studies – je nach Fragestellung – unterschiedlichste Methoden zur Anwendung.
Beispiel:
Ausgehend von der Darstellung der männlichen und weiblichen Protagonisten in Grimms Märchen „Rapunzel“ (1812), dem Disney-Animationsfilm „Rapunzel – Neu verföhnt“ (Tangled, 2010) und „Rapunzels erste Liebe“ (In: Wer fürchtet sich vorm lila Lachs? Elisabeth Steinkellner, Michael Roher, 2013) kann man fragen, wie traditionelle Rollenklischees hinsichtlich Aussehen, Sprech- und Verhaltensweisen etc. verfestigt oder aufgebrochen werden.
3 Autor/in und Leser/innen im Fokus
3.1. Rezeptionsästhetik
- Was bewirkt der Leser/die Leserin beim Text?
- Was bewirkt der Text bei der Leserin/dem Leser?
- Wie wurde ein Text im Lauf der Geschichte gelesen?
- Wie hat sich die Rolle des Lesers im Lauf der Geschichte gewandelt?
- Wie könnte eine historische Leserin ein Werk verstanden haben?
- Wie formen Texte und Gattungen Wahrnehmungsstrukturen des Publikums?
Diese Theorie rückt die konstruktive Tätigkeit der Leser/innen bei der Interpretation in den Mittelpunkt. Literaturgeschichtlich betrachtet geht es darum, einen Text im Spiegel seiner Wirkungsgeschichte darzustellen. Die Potenziale eines Textes entfalten sich erst im Lauf seiner Rezeptionsgeschichte und werden dadurch bestimmt, wie ein Text gelesen wird. Aspekte wie Zensur, Erfolg und Misserfolg, Bestseller etc. können hier untersucht werden. Zentral ist hier der Erwartungshorizont des Lesers bzw. der Leserin. Damit sind Einstellungen, Grundhaltungen, aber auch literarisches Vorwissen des Lesenden gemeint. Literarische Texte enthalten Leerstellen, die in einem produktiv-konstruktiven Lesevorgang vom Leser/von der Leserin verknüpft und mit Bedeutung gefüllt werden. Wer ist dieser Leser oder diese Leserin? Die Vertreter/innen der Rezeptionsästhetik sprechen von einem impliziten Leser, der ein idealer, ein theoretischer und empirisch nicht messbarer Leser, also nicht real ist und alle Leseprozessmöglichkeiten in sich vereint.
Beispiel:
Die literarische Figur des Vampirs verändert sich von Bram Stokers „Dracula“ (1897) über Angela Sommer-Bodenburgs „Der kleine Vampir“ (1979) oder Renate Welshs „Vamperl“ (1979) bis zu Stephenie Meyers Edward Cullen aus der Twilight-Reihe (2005). Welche Leserinteressen werden im Zuge dieses Rezeptionsprozesses berücksichtigt? Welche neuen Zielgruppen werden durch die Adaptionen der literarischen Figur erschlossen? Der Vergleich lässt sich natürlich erweitern, indem man das Medium Film miteinbezieht, in dem Animationsfilm „Hotel Transsilvanien“ (2005) wird Graf Dracula als liebevoller, alleinerziehender Vater dargestellt.
Methoden und deren theoretische Grundlagen, auf die in diesem Dokument nicht eingegangen wird, da sie für eine VWA zu komplex erscheinen:
- Positivismus
- Poststrukturalismus, Dekonstruktion
- Sozialgeschichte und Sozialtheorie der Literatur
- Systemtheorie, Literatursoziologie
- Literatur- und Kultursemiotik
- Intermedialität
- medienwissenschaftliche Zugänge
- Diskursanalyse
- Weitere Kulturwissenschaftliche Ansätze: Cultural Studies, New Historicism, Anthropologie, kultursoziologische und mentalitätsgeschichtliche Ansätze
- psychoanalytische Methode
Literatur
Becker, Sabine/Hummel, Christine/Sander, Gabriele: Literaturwissenschaft. Eine Einführung. 2. erweiterte und aktualisierte Auflage. Stuttgart: Reclam, 2018.
Best, Otto F.: Handbuch literarischer Fachbegriffe. Definitionen und Beispiele. 8. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer, 2008.
Jeßing, Benedikt/Köhnen, Ralph: Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. 4., aktualisierte und überarbeitete Auflage. Stuttgart: J.B. Metzler, 2017.
Schulbücher
Aichner, Herlinde/Schörkhuber, Wolfgang: Kompetenz: Deutsch. Basisteil 6. Klasse. Sprachbuch für Allgemein Bildende Höhere Schulen. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky, 2015. [Umfassende Informationen und Anleitungen zum Thema Literarische Übersetzungen bietet das Kapitel Sprachen übersetzen – Kulturen verstehen, S. 171-180.]
Aichner, Herlinde/Schörkhuber, Wolfgang: Kompetenz: Deutsch. Basisteil 7./8. Klasse. Sprachbuch für Allgemein Bildende Höhere Schulen. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky, 2016. [Umfassende Informationen und Schritt-für-Schritt-Anleitungen bietet das Kapitel Literarische Texte analysieren und interpretieren, S. 36-53.]
Blieberger, Gernot/Kopinitsch, Klaus/Mayer-Steflic, Karin/Toschner, Verena: TEXTwärts. Literatur und Kultur in 13 Bausteinen. 10 bis 13. Linz: Veritas, 2014. [Einen kurzen Überblick über literarische Theorien und Methoden bietet der Text Lesen, S. 82-84.]
Duden Schulgrammatik extra. 5. bis 10. Klasse. Grammatik und Rechtschreibung. Aufsatz und Textanalyse. Umgang mit Medien. 3., aktualisierte Auflage. Berlin, Mannheim, Zürich: Duden, 2009. [Sehr kompakt und übersichtlich ist das Kapitel Textanalyse, S. 85-115, der Schwerpunkt liegt auf der Analyse nach der werkimmanenten Methode.]
Mayer-Steflic, Karin et.al.: Wortwechsel. Deutsch für die Oberstufe 3. Linz: Veritas, 2018. [Eine kurze Einführung über gängige Deutungsansätze enthält das Kapitel Textinterpretation, S. 166-176.]
1 Aichner, Herlinde/Schörkhuber, Wolfgang: Kompetenz: Deutsch. Basisteil 7./8. Klasse. Sprachbuch für Allgemein Bildende Höhere Schulen. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky, 2016, S. 37f.
2 vgl. Best, Otto F.: Handbuch literarischer Fachbegriffe. Definitionen und Beispiele. 8. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer, 2008, S. 339.
3 vgl. Becker, Sabine/Hummel, Christine/Sander, Gabriele: Literaturwissenschaft. Eine Einführung. 2. erweiterte und aktualisierte Auflage. Stuttgart: Reclam, 2018, S. 191f.
4 Rechtsinformationssystem des Bundes: Lehrpläne – allgemeinbildende höhere Schulen, Fassung vom 14.09.2019. Online unter: www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe [Zugriff: 14.09.2019]
5 ebd.
6 Jeßing, Benedikt/Köhnen, Ralph: Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. 4., aktualisierte und überarbeitete Auflage. Stuttgart: J.B. Metzler, 2017, S. 234.
7 ebd., S. 235.
8 Jeßing/Köhnen, 2017, S. 240.
9 vgl. Becker/Hummel/Sander, 2018, S. 225-229; Jeßing/Köhnen, 2017, S. 264f.
10 vgl. Aichner, Herlinde/Schörkhuber, Wolfgang: Kompetenz: Deutsch. Basisteil 6. Klasse. Sprachbuch für Allgemein Bildende Höhere Schulen. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky, 2015, S. 172-175.
11 Becker/Hummel/Sander, 2018, S. 216f.
12 Jeßing/Köhnen, 2017, S. 288.